Therapie
Therapie der Adipositas
Es gibt eindeutige Richtlinien für eine erfolgreiche Therapie von übergewichtigen, adipösen bzw. morbid adipösen Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen (Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft für Adipositas im Kindes- und Jugendalter, AGA; Leitlinien der DAG, Hauner 2004, 2006).
Sie orientieren sich an den klar definierten Therapiezielen:
Eine Veränderung der Energiebilanz des Körpers soll durch eine Reduktion der Energie/Fett-Zufuhr (Ernährungsumstellung) z.B. auf der Grundlage der optimierten Mischkost (Kiefer, 2004; Kiefer, 2006; Kersting, 2005; Deutsche Gesellschaft für Ernährung, 2005) und durch eine Erhöhung des Energieverbrauchs (Steigerung der körperlichen Aktivität) erreicht werden (Trost, Kerr, Ward & Pate, 2001; Dollmann, Ridley, Magaray & Hemphill, 2007).
Dazu ist in der Regel eine langfristige schulenübergreifende therapeutische Maßnahme (Ardelt-Gattinger, Lengenfelder & Lechner, 2003) erforderlich, in die – im Falle von Kindern verpflichtend, bei Erwachsenen sinnvoll – die Personen des engeren sozialen Umfeldes des Patienten einbezogen werden.
Entscheidend für eine nachhaltige Therapie ist die Diagnostik durch ein interdisziplinäres, kompetentes, speziell geschultes Team. Dieses muss in der Lage sein, bereits bestehende körperliche Erkrankungen und psychische Störungen, die als Folge der Krankheit Adipositas entstanden sind bzw. als Komorbidität auftreten, zu erkennen. Nur so ist es möglich dieIndikation zur passenden auf das Individuum zugeschnittenen Therapie zu stellen.
Metaanalysen (Vergleich von vielen wissenschaftlich erstklassigen Studien) zeigen, dass konservative Maßnahmen auch bei Adipositas unter BMI 40 bei Erwachsenen, bzw. bei Kindern unter dem 99.5 Perzentil oft wesentlich geringere Abnahmeerfolge als erhofft über die geforderten „mehr als 48 Monate gehalten“ aufweisen können.
Die Erwartungen werden bescheidener (Mast, Asbeck, Langnäse, Grund & Müller, 2000; Müller et al., 2004; Müller, Reinehr & Hebebrand 2006; Wiegand, Dannemann, Vahabdazeh & Ernst, 2005), „Health at any weight“ (Miller & Jacob, 2001) ist das neue Paradigma. Fünf kg oder ca. 5% des Ausgangsgewichts werden bei konservativen Maßnahmen Erwachsener, ein Halten des Gewichts bei Kindern / Jugendlichen als Erfolg betrachtet, umso mehr eine gesunde Ernährung und ausreichende Bewegung aber als unverzichtbares Ziel formuliert.
Alle Maßnahmen durch Ernährungs- und BewegungsexpertInnen sollten ausreichend lange, d.h. so lange durchgeführt werden, bis der neue Lebensstil weitgehend automatisiert wurde.
Die kurzfristige Veränderung der Ernährung und des Ess- und Bewegungs-verhaltens ist oft hilfreich um Änderungen anzustoßen und zu motivieren.
Die langfristige Steuerung durch Kontrolle der Umgebung oder durch Gedankenunterdrückung ist kontraproduktiv, weil die unterdrückten Gedanken (ich esse jetzt KEINE Schokolade, Wurstsemmel etc.) bei jeder Ablenkung, die ‚Arbeitsspeicher’ unseres Gehirns benötigen (Stress, TV, Computerspielen, Arbeit, Traurigkeit, Freude… etc.) stärker als zuvor ‚auftauchen’.
Dann tritt jener seit Urzeiten hoch automatisierte wenig Arbeitsspeicher benötigende Prozess auf den Plan, der der Menschheit das Überleben gesichert hat: „in kurzer Zeit so viel wie möglich essen“.
Auch eine Teilnahme an Bewegungsprogrammen, die mehr Spaß machen als das empfohlene „Gehens oder Laufens regelmäßig“ oder der in der Kindheit erlebte ‚Turn’-Unterricht ist zur Motivation extrem günstig. Aber auch hier ist darauf zu achten, dass parallel oder anschließend die Integration in den Alltag begleitet und überprüft wurde.
Begleitung durch PsychologInnen ist State of the Art, d.h. gehört zu den international geforderten Standards als für den Erfolg der anderen Maßnahmen ausgewiesenes Muss dazu. Um in einem Bild zu sprechen ist Psychologie der Zug, der das Wissen der Sport- und Ernährungswissenschafter in den Köpfen der Menschen festigt und Know How für die Umsetzung liefert.
Auch ist es Aufgabe von PsychologInnen und PsychotherapeutInnen bei Adipositas häufig auftretende Störungen wie Binge Eating (nicht kontrollierbare Essanfälle bei ca. 30 % der Adipösen) oder Bulimie (Fressanfälle plus Kompensation in Form von Erbrechen, Einnahme von Abführmitteln, Treiben von übermäßigem Sport etc.) zu erkennen, zu behandeln sowie das Risiko des Auftretens durch die Therapie zu minimieren.
Die medizinische Begleitung ist ebenfalls unabdingbar, da Adipositas keine psychische Störung ( Def. Adipositas ) sondern eine Krankheit ist. Die Medizin stellt – um im Bild zu bleiben, quasi die Schienen zur Verfügung, auf denen sich der Behandlungszug bewegt. Die anderen Fachgebiete müssen sich durch öfter erfolgende Kontrolluntersuchungen sicher sein, dass die eingeschlagene Richtung noch stimmt bzw. etwa im Falle von einem BMI größer als 40 geändert werden muss.
Dies alles ist die Grundlage für eine strukturierte, auf wissenschaftlichen Überprüfungen basierende, multidisziplinäre Therapie.
Literatur
AGA (Arbeitsgemeinschaft für Adipositas im Kindes- und Jugendalter). Leitlinien. www.adipositas-gesellschaft.de/daten/Leitlinie-AGA-2004-09-10; geöffnet am 10.08.2007.
Ardelt-Gattinger, E., Lengenfelder, P & Lechner, H. (2003). Evaluation interdisziplinär vernetzter Adipositas-Therapie unter Berücksichtigung der Suchtkomponenten. Verhaltenstherapie & Psychosoziale Praxis 35, 4, 735-768.
Deutsche Gesellschaft für Ernährung (2005). OptimiX – Empfehlungen für die Ernährung von Kindern. 3., überarbeitete Auflage. Bonn: aid Infodienst.
Dollmann, J, Ridley, K., Magaray, M. & Hemphill, E. (2007). Dietary intake, physical activity, and TV viewing as mediators of the association of economic status with body composition. Health Psychology, 31, 45 – 52.
Kersting, M. (2005). Umgebungsfaktoren – Ernährungsgewohnheiten. In: M. Wabitsch, K. Zwiauer, J. Hebebrand und W. Kiess (Hrsg.), Adipositas bei Kindern und Jugendlichen (61-69). Berlin: Springer.
Kiefer I. Ernährung und Prävention der Adipositas. Acta Medica Austriaca 2004;31:120-124.
Kiefer, I., Rieder, A., Rathmanner, Th., Meidlinger, B., Baritsch, C., Lawrence, K., Dorner Th., Kunze, M. (2006). Erster Österreichischer Adipositasbericht 2006. Grundlage für zukünftige Handlungsfelder: Kinder, Jugendliche, Erwachsene. Verein Altern mit Zukunft (Hrsg.), August 2006.
Mast, M., Asbeck, I., Langnäse, K., Grund, A. & Müller, M. J. (2000). Die Kieler Adipositaspräventionsstudie (KOPS). Ein Erfahrungsbericht. Kindheit und Entwicklung, 9 (2), 108-115.
Miller, W.C., Jacob, A.V. (2001).The health at any size paradigm for obesity treatment: the scientific evidence. Obesity reviews 2, 37-45.
Müller, M. et al. (2002). Obesity Prevention. Aktuelle Ernährungsmedizin, 27, 139-141.
Müller, M. J., Reinehr, T., & Hebebrand, J. (2006). Prävention und Therapie von Übergewicht im Kindes- und Jugendalter. Deutsches Ärzteblatt, Jg. 103, 6, 292-297.
Trost, S.G., Kerr, L., Ward, D. & Pate, R. (2001). Physical activity and determinants of physical activity in obese and non-obese children. International Journal of Obesity, 25, 822-829
Wiegand, S. Dannemann, A., Vahabdazeh, Z. und Ernst, M. et al (2005). Wer braucht was? Neue Ansätze der multidisziplinären Diagnostik und Therapie adipöser Kinder und Jugendlicher in einer multiethnischen Großstadt. Bundesgesundheitsblatt 48, 307-314.